Interview

«Kirche kann, was Soziale Arbeit nicht kann.»

Viviane Krucker-Baud

Viviane Krucker Baud: Theologin. Urs von Orelli: Soziokultureller Animator. Beide wünschen sich eine Kirche, die ihre Rolle im Sozialraum wahrnimmt. Wie diese aussieht, loten sie im folgenden Gespräch aus.

Urs: Viviane, was ist der Auftrag der Kirche im Sozialraum?

Viviane: Die Kirche ist das Sprachrohr Gottes bei den Menschen. Der Auftrag ist uns durch Jesus gegeben: «Erzählt die frohe Botschaft …» Kernauftrag ist also, das Evangelium zu verkünden – und zu leben.

Das sehe ich auch so. Aber ich frage mich: Nur in Worten verkünden? Nein: Wort und Tat! Mir gefällt das Zitat, das Franz von Assisi zugeschrieben wird: «Predige das Evangelium jederzeit, wenn nötig mit Worten.»

Ich denke, es braucht beides. Das Wort, das sagt: «Wir haben einen barmherzigen Gott.» Wenn unsere Taten aber nicht barmherzig sind, dann ist das Wort nicht glaubwürdig. Das ist auch in persönlichen Beziehungen so. Wenn ich sage: «Ich bin immer für dich da» – aber es bleibt bei dieser Aussage und es folgen keine Taten: Dann ist das Wort wertlos.

Ich habe Mühe, wenn Tat und Wort – das Soziale und das Verkünden – künstlich getrennt werden.
Viviane Krucker Baud Pfarrerin, Co-Präsidentin der Schweizerischen Evangelischen Allianz, TDS-Dozentin

Ich habe jedoch Mühe, wenn Tat und Wort – das Soziale und das Verkünden – künstlich getrennt werden: «Jetzt machen wir Gutes und helfen Menschen – und reden keinesfalls von Gott!» Als Kirche muss das Wort und die Tat Hand in Hand gehen.

Sonst wäre das wie Soziale Arbeit, einfach unter dem Dach der Kirche?

Ja genau. Klar, es kann ein Schwerpunkt im Sozialen gesetzt werden. Aber auch vom Mittagstisch der Kirche erwarte ich dennoch den kleinen Unterschied: Ein Gebet zum Anfang, ein Segen am Ende …

Die Frage ist für mich: Mit welcher Absicht, mit welcher Handlung geht die Kirche in den Sozialraum? Um das Wort zu predigen – oder um den Bedürfnissen der Menschen zu begegnen?

Die Kirche ist ja schon im Sozialraum.

Ja, aber gesellschaftsrelevant ist sie nicht. Sie fühlt sich vielerorts nicht zugehörig zum Sozialraum.

Sie ist drin, aber sie ist sich ihrer Rolle nicht bewusst. Eine Sozialraumanalyse kann helfen, die Wahrnehmung für das Umfeld zu schärfen. Zudem wird die Rolle der Kirche geschärft.

Genau, es sind diese zwei Seiten. Darum finde ich die Sozialraumanalyse ein so gutes Tool. Aber du hast recht: Die Kirche soll nicht nur auf die Menschen ausgerichtet sein, sondern unbedingt auch auf Gott.

Natürlich muss sie auf die Bedürfnisse im Sozialraum ausgerichtet sein. Also z. B. nicht Angebote für Senioren anbieten in einem Quartier, wo es viele alleinerziehende Mütter hat. Sie soll hinschauen: Wer sind die Menschen hier? Die Kirche hat einen Auftrag in der Gesellschaft. Das zeigt sich schon bei den ersten Christen in Apostelgeschichte 2: Sie waren angesehen beim Volk, haben sich um die Armen gekümmert. Oder zur Zeit der Reformation: Christinnen haben die Not gesehen – die Pest – und sich darum gekümmert. Ich habe Mühe, wenn es nur beim sozialen Engagement bleibt.

Bei einer Kirche ist das Evangelium auch im ‘reinen’ sozialen Handeln drin. Es wird durch unser Soziales Handeln verkündet.
Urs von Orelli Soziokultureller Animator FH, TDS-Dozent und Teil des Teams Bildung, verantwortlich für den Fachbereich Weiterbildung, Beratung

Bei einer Kirche ist aber das Evangelium auch im «reinen» sozialen Handeln drin. Es wird durch unser soziales Handeln verkündet. Nochmals meine Frage nach dem Antrieb: Sind es die Menschen? Oder ist es die Bekehrung der Menschen?

Es ist beides. Natürlich ist der Mensch kein Bekehrungsobjekt. Das Interesse an den Menschen im Sozialraum muss echt sein. Aber wenn es ums Letzte geht: Wenn ich mich bei einem Sterbenden entscheiden müsste, ihm zu trinken zu geben oder ihm von Jesus zu erzählen – ich würde mich wohl fürs Zweite entscheiden. Insofern gewichte ich das «Seelenheil» höher. Denn nach dem Sterben zählt der Körper, der Besitz nichts mehr.

Aber klar: Menschen kommen nicht nur durch Worte zum Glauben, sondern auch wenn sie merken, dass die Kirche die Nöte ernst nimmt.

Die Lebenswelt von draussen in der Kirche

Wenn wir uns für die Menschen im Sozialraum interessieren: Sind wir auch bereit, sie mit ihrer Lebenswelt in unsere Kirche hineinzunehmen, mit ihren Haltungen und Meinungen? Sind wir bereit, aus unserer Wohlfühlzone herauszugehen? Ich erlebe die Kirche nicht so. Ich erlebe sie eher starr: Das sind unsere Angebote, das sind unsere Ressourcen. Und die buttern wir hinein in unsere Programme – wie immer.

Ich denke, uns als Kirche geht es immer noch gut, vielleicht zu gut – finanziell. So kann sie sich diese Haltung leisten wie du sie beschreibst. Aber es ist eine Frage der Zeit. Irgendwann kommt der Crash. Und den wünsche ich mir, ehrlich gesagt.

Warum auf den Crash warten? Wir sehen ihn kommen – warum fangen wir nicht jetzt an, aktiv zu werden? Gesellschaftsrelevant zu sein?

Gesellschaftsrelevant: Ja, aber nicht einfach um der Gesellschaft willen, im Sinne von: «Schaut, wir sind dabei!.» Unser Auftrag gehört dazu. Es ist problematisch, wenn die Kirche den Auftrag nicht wahrnimmt.

Den Auftrag würde ich mit dieser Gleichung zusammenfassen: Gottes Evangelium + Bedürftigkeit der anvertrauten Menschen = Aktivitäten der Kirche. Bei den Menschen orientieren wir uns an ihren Nöten.

... und wenn die Menschen keine Nöte haben?

Dann haben sie Bedürfnisse, Wünsche, Sorgen. Menschen sind immer auf eine gewisse Weise bedürftig.

Aber Menschen erkennen oft ihre wahren Bedürfnisse nicht. Gnade von Gott ist auch, dass Menschen sehen, dass sie bedürftig sind, dass sie Gott brauchen.

«Menschen haben Bedürfnisse, Wünsche, Sorgen. Sie sind immer auf eine gewisse Weise bedürftig.» Urs von Orelli im Gespräch mit Viviane Krucker Baud

Fruchtbare Verbindung zum Sozialraum

Viele Kirchen erleben den Druck, ein gutes Programm anzubieten. Sie müssen sich immer wieder neu erfinden. Hier sehe ich eine grosse Chance. Wenn sie sich mit dem Sozialraum verbinden, können Synergien genutzt werden. Siehst du das auch so?

Klar. Wenn der Elternverein ein Kinderangebot anbietet, könnte die Kirche mit ihm zusammenspannen.

Die Herausforderung dabei ist, wenn die Kirche dann nicht mehr Kirche sein darf …

Unsere Kirche plante zusammen mit dem Familienverein ein Musical – aber nicht mit einer biblischen Geschichte, so die Bedingung des Vereins. Der Pfarrer willigte ein, und es entstanden sehr gute Kontakte zu Familien. Einige wollten in der Folge ihr Kind taufen lassen.

Nochmals: Was ist der Auftrag der Kirche?

Mir kommt eine Kirche in England in den Sinn. Ein Team startete damit, dass sie im Quartier drei Monate lang beteten. Um den Auftrag zu finden ist für mich das Gebet auch ein wesentlicher Punkt. Also: Auf die Menschen, aber auch auf Gott hören: Was ist dran? Gott könnte überraschen mit einer Idee, welche Zugang schenkt zu den Menschen.

Der Aspekt des Gebets ist mir auch wichtig. Beten und Hören auf Gott gehören zu unserem Angebot der Sozialraumanalyse.

Eine Kirche mit einem guten Programm ist nicht automatisch eine relevante Kirche.
Viviane Krucker Baud Pfarrerin

Eine Kirche mit einem guten Programm ist nicht automatisch eine relevante Kirche. Die meisten Pfarrpersonen haben keine Zeit, zu den Leuten zu gehen. Es gibt in den Landeskirchen viele Chancen, zu einer breiten Öffentlichkeit zu sprechen: Z. B. an Beerdigungen.

Oder an Familien- und Schulanfangsgottesdiensten. Bei uns feierte der Cevi mit der Kirche Waldweihnacht: Es kamen Kinder und ihre Eltern – insgesamt 400 Leute! Das ist mein Traum, wenn wir Kirche sind: Wir müssen ja nicht einmal gehen. Es genügt schon, das Gebäude zu öffnen: Für eine Ausstellung, für ein Schulsingen usw. Wir können fragen: Was können wir geben? Und dann: Wo können wir auch nehmen?

Ein Beispiel: Alle Pfarrpersonen haben eine Seelsorgeausbildung. Psychische Krankheiten nehmen rapide zu. Warum geht die Kirche nicht hin zu den Kliniken und bietet Seelsorge an?

Die gibt es bereits, aber nicht grossflächig. Die Seelsorge kommt nicht so gut an. Vielleicht muss sich die Kirche besser vermarkten, sich «aufdrängen»: «Wir haben ein gutes Angebot!» Und nicht: «Wir kommen, aber keine Angst, wir beten nicht.» Doch: Wir beten und wir glauben, dass es einen Unterschied macht.

Die Identität der Kirche muss geklärt sein: Wer sind wir, warum machen wir, was wir tun? Im Basismodul Sozialraumanalyse beschäftigen wir uns mit dieser Frage. Die Kirche ist eine Institution, die sozial handelt – aber keine Sozialarbeit. Mario Fehr, Zürcher Regierungsrat, sagte: «Kirche kann etwas, was Soziale Arbeit nicht kann. Sie kann den Menschen lieben.» Ja, Christinnen und Christen gehen die «Extrameile», welche die Soziale Arbeit aus ihrem Mandat heraus nicht gehen kann oder darf.

«Kirche kann etwas, was Soziale Arbeit nicht kann. Sie kann den Menschen lieben.»
Mario Fehr Zürcher Regierungsrat

Das merke ich auch in der Seelsorge: Die Leute spüren, dass wir Zeit haben. Oder bei den Besuchen: Leute sind zuerst skeptisch, mit der Zeit öffnen sie sich und sind dankbar dafür.

Das ist Kirche im Sozialraum! Genau das!

Es hat doch auch mit unserer Einstellung zu tun: Es ist etwas Tolles, Kirche zu sein! Dann haben wir Ausstrahlungskraft …

… und Gesellschaftsrelevanz. Wir machen nicht unbedingt das, was alle wollen. Wir sind wer wir sind und sind aktiv. Die einen wenden sich ab. Lieber so, als wenn wir als Kirche den Leuten egal sind …

… wenn es keine Rolle spielt, ob es die Kirche gibt oder nicht.

Wenn man wahrgenommen wird, kann man sich für oder gegen die Kirche entscheiden.

Wie genau?

Im Landeskirchenforum (1) taucht oft die Frage auf, wie Kirchen konkret handeln sollen. Das Why ist klar, aber das How?

Von Midi (Evangelische Kirche Mitteldeutschland) habe ich die Empfehlung gehört: Einfach anfangen. Ausprobieren. Sie nennen solche Versuche Erprobungsräume. Wenn du fünf Leute hast, die gerne kochen: Kocht für andere. Nicht gross Konzepte machen, sondern anfangen und dann schauen, was klappt. Z. B. zum Thema Migration: Eine Person erzählt aus ihrem Heimatland. Oder: Die Hausgruppen laden einmal im Jahr das Quartier zu einem Fest ein.

Das entspricht dem Gedanken von «missionalen Communities»: Dort, wo du bist, ehrlich leben, und ausprobieren. Mutig einladen – nicht für ein «Programm», sondern für ein Zusammensein.

Ich glaube, der Sonntagmorgen-Gottesdienst ist nicht die Zukunft der ref. Kirche. Aktuell wird ein grosser Teil der Ressourcen dafür aufgewendet. Das wird sich ändern. Wichtiger werden neue Formen, z. B. thematische Anlässe: Fotopräsentation, Männer- und Frauenabend, Hausgruppen, Koch- oder andere Interessensgruppen …

Oder es gibt eine Verschiebung auf den Freitag- oder Samstagabend – bei der Jugend jedenfalls. Pfeiler werden doch bestehen bleiben: Gebet, Gemeinschaft, Abendmahl, Lehre … aber die können unterschiedlich gefüllt werden.

Genau, bestehende Angebote können noch stärker gefüllt werden mit dem, was wir als Kirche sein möchten: Z. B. ein Kirchenkaffee, der mit Fragen auf dem Tisch zu einem Gespräch oder einem Gebet anregt.

Wir können uns immer weniger Pfarrpersonen leisten. Das ist aber die Chance für eine Beteiligungskirche. Nimm die Gaben aus dem Team und brauche sie, seien es Sport, Musik, Gesprächsführung … Eine Analyse hilft dabei: Welche Gaben sind in der Kirche, wo brauchen wir Ergänzung von aussen?

Kirche – lokal oder mitgliederorientiert?

Ich plädiere, dass wir dort aktiv sind, wo wir sind. Also im Ort, wo wir wohnen. Dass wir auch Kirche sind mit Menschen, die im Ort wohnen.

Landeskirchen sind schon ein Teil des Gefüges im Sozialraum. Zudem haben sie viele Passivmitglieder. Sie zu erreichen kann auch ein Bestreben der Kirche sein.

Ja, nicht nur die Kirchenfernen. Aber zu unserem Auftrag gehört es, uns um das «Heil der Seelen» um uns herum zu sorgen. Regionalkirchen haben einen anderen Auftrag.

Als reformierte Kirche können wir eigentlich gar nicht anders, als uns lokal zu investieren – die Kirche im Dorf sozusagen.

… so schön zu hören (lacht)!!

Die Stärke der lokalen Kirche ist doch, dass du sie zu Fuss erreichst, und dass du die Kirchenleute im Migros und auf dem Spielplatz siehst …

… im Sozialraum eben. 

Aufgezeichnet von Matthias Ackermann

---

(1) Viviane ist Präsidentin des Landeskirchen-Forums. Dieses will Reformierte Kirchgemeinden der Deutschschweiz in ihrer Entwicklung fördern.