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Kirche im Sozialraum

Urs von Orelli

Um das Evangelium zu verkünden und im Dorf, Stadtteil oder Quartier gesellschaftsrelevant zu sein, muss eine Kirche ihr Umfeld und die Menschen darin kennen: die Bedürfnisse, Wünsche und Herausforderungen. Ein neues Angebot der HF TDS Aarau leitet Kirchen darin an, diese zu entdecken.

Was ist Kirche? Das Kirchengebäude, der Gottesdienst? Der Ort, wo sich gläubige Menschen versammeln? Die gesamte Christenheit, der «Leib Christi»? Je nach Prägung fällt die Antwort unterschiedlich aus. In diesem Artikel beleuchte ich den Bezug der Kirche zu ihrem Umfeld. Mit Kirche meine ich nicht das Gebäude, sondern die Menschen; sie machen eine christliche Gemeinschaft lebendig. Ich werde mich also nicht damit befassen, was in Kirchengebäuden geschieht, sondern was durch die Menschen der Kirche bewegt werden kann: Im Umfeld, wo die Kirche verwurzelt ist. Oder anders gesagt: da, wo die Menschen leben, die sich der Kirche zugehörig fühlen.

«Suchet der Stadt Bestes!»

Jede Kirche ist Teil eines Umfeldes, eines Ortes. In der Sozialfachsprache spricht man vom Sozialraum: Ein Sozialraum ist kurz gesagt der Ort, in dem Menschen leben und interagieren. «Suchet der Stadt Bestes!» – diese Aufforderung aus Jeremia 29,7 galt in alttestamentlicher Zeit der jüdischen Gemeinschaft im Exil. Übertragen in unsere Zeit und Kultur müsste damit eine Kirche gemeint sein, die sich aktiv zum Wohl aller in die Gesellschaft – oder eben: in den ihr zugehörigen Sozialraum – einbringt. Eine Kirche, die sich nicht als isolierte Einheit, sondern als integraler Bestandteil eines Ortes versteht.

Diese sozialräumliche Perspektive, die hier eingenommen wird, geht über eine rein praktische Methode hinaus. Es handelt sich vielmehr um eine Haltung: Welche Glaubensüberzeugung schickt mich hinaus zu den Menschen? Welche christlichen Werte oder Lehren treiben mich an? Wenn wir auf die Überlieferung im Neuen Testament vertrauen, wirkt Jesus auch heute noch durch den Heiligen Geist in uns. Das fordert uns auf der persönlichen Glaubensebene und in der Nachfolge als Kirche heraus. Die Verbindung zu Gott bildet dabei die unverzichtbare Grundlage. Zweitens wird der Fokus auf die Bedürfnisse der Menschen bzw. auf die Herausforderungen des Ortes und des Alltags gerichtet. Dies erfordert zweierlei: erstens die Bereitschaft, die vertraute Sicherheit zu verlassen; zweitens die Offenheit, sich aktiv mit der Lebenswelt der Menschen im Sozialraum auseinanderzusetzen. Wenn Kirchengemeinschaften dazu bereit sind, findet ein Übergang von einer einladenden Komm-Struktur zu einer aktiven und partizipativen Geh-Struktur statt.

Transformation anstreben, Identität behalten

Wie gelingt ein solcher Transformationsprozess, ohne dass die Kirche ihren Grundauftrag aus den Augen verliert? Führen wir uns kurz die vier Handlungsfelder der Kirche vor Augen, wie sie die frühe Kirche kannte und wie sie während des zweiten vatikanischen Konzils 1962 durch «die Gemeinschaft der Menschen» ergänzt wurden: «Leiturgia» (Liturgie & Spiritualität), «diakonia» (soziales Handeln & Seelsorge), «martyria» (Zeugnis & Verkündigung) und «koinonia» (Gemeinschaftsbildung). Die Vision von «Kirche im Sozialraum» stellt diese vier Grundpfeiler nicht infrage. Aber sie möchte diese nicht nur innerhalb der Kirchenmauern, sondern auch im sozialen Gefüge der Stadt umsetzen. Sie beschränkt sich nicht auf das Kirchengebäude und eine spezifische Bevölkerungsschicht, sondern wird ganzheitlich mit den Menschen im Ort gedacht und gelebt.

Ich behaupte, dass die Zukunft der Kirche massgeblich davon abhängt, ob sie es schafft, im Sozialraum präsent zu sein und diesen als verlässliche Partnerin mitzugestalten.
Urs von Orelli Soziokultureller Animator, TDS Aarau

Ich behaupte, dass die Zukunft der Kirche massgeblich davon abhängt, ob sie es schafft, im Sozialraum präsent zu sein und diesen als verlässliche Partnerin mitzugestalten. Blicken wir nach Europa, so finden wir solche Bestrebungen in Reformen und Transformationsprozessen: Fresh Expressions (1) in der anglikanischen Kirche in England, Erprobungsräume (2) bei den evangelischen Kirchen in Mitteldeutschland. Vereinzelt kommt der Ansatz einer bewusst sozialräumlichen Arbeit auch in Kirchen der Schweiz vor. Eine Besonderheit hierzulande ist, dass viele Landeskirchen Kirchensteuern von juristischen Personen – also Firmen – beziehen. Diese Erträge sind zweckgebunden und dürfen nicht für kultische Zwecke wie Gottesdienste verwendet werden. Sie müssen als Dienstleistungen und Angebote der gesamten Bevölkerung zugutekommen. Eine Fokussierung auf den Sozialraum müsste also eigentlich von Gesetzes wegen schon etabliert sein. Umso mehr meine ich: Eine Kirche kann nur dann ihrem Auftrag – insbesondere im diakonischen Bereich – gerecht werden, wenn sie sich aktiv den Anliegen und Herausforderungen der Menschen vor Ort stellt. Es ist dementsprechend wichtig, den Blick nach aussen zu richten – und die christlichen Glaubensüberzeugungen und somit das eigene Profil nicht zu verlieren.

Eine Kirche kann nur dann ihrem Auftrag gerecht werden, wenn sie sich aktiv den Anliegen und Herausforderungen der Menschen vor Ort stellt.

Also noch mehr Aufgaben für die Kirchen? Wo doch die Mitarbeitenden oft am Limit sind und die finanziellen Ressourcen Jahr für Jahr knapper werden? Zu Beginn: ja, weil Angebote der Kirchen neu überdacht, neu gewichtet und zum Teil gestrichen werden müssen. Anderseits: nein, weil nach der Analyse Ressourcen bewusster eingesetzt werden. Weiter kann die Zusammenarbeit und Vernetzung mit anderen Institutionen die Arbeit der Kirche stärken: z. B. indem Ressourcen mit anderen Institutionen im Sozialraum gebündelt und Synergien genutzt werden. Beispiele könnten sein: die Psychiatrien mit seelsorgerlichen Leistungen unterstützen; als Kirche bei grösseren Quartieranlässen oder bei eigenen Aktivitäten mit Vereinen zusammenspannen; einen Mittagstisch in einer Ganztagesstruktur zusammen mit der Schule anbieten. Das Handeln der ersten christlichen Gemeinde in Apg. 2 muss uns als Vorbild dienen: «Sie teilten mit allen, die bedürftig waren, und hörten nicht auf, Gott zu loben, und waren bei den Leuten angesehen.» Die Kirche – und damit das Evangelium – werden gesellschaftsrelevant und von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Der Auftrag der Kirche könnte mit folgender Formel auf den Punkt gebracht werden: Gottes Evangelium + Bedürftigkeit der anvertrauten Menschen = Aktivitäten der Kirche.

Diakonie ja, aber warum Sozialraumanalyse?

Eine Sozialraumanalyse bewahrt Kirchen davor, Diakonie nach einem fixen Muster zu pflegen. Sie macht erst einmal Tabula Rasa mit bisherigen Angeboten und Vorstellungen. Sie will den Sozialraum unvoreingenommen kennenlernen: die Menschen in ihren Lebensumständen, mit ihren Bedürfnissen. Sie betont das Verb im Jeremia-Wort: «Suchet der Stadt Bestes!» Für das «Beste» im Sozialraum gibt es kein fixfertiges Rezept. Es muss gefunden werden. Antrieb dabei ist die Nächstenliebe, wie sie von Jesus gefordert wird und vorgelebt wurde. Diese Liebe zeigt sich in Empathie Menschen gegenüber und will deren Bedürfnisse erfahren. Anschliessend geht sie auf diese Bedürfnisse ein, bietet Hilfe an. Genau zu einem solchen Lebensstil werden Menschen aus Kirchgemeinden mit der Sozialraumanalyse befähigt.

Ins Gespräch kommen

Seit 2020 führt die HF TDS Aarau im Rahmen der Ausbildung mit Studierenden der Diplomausbildung Sozialraumanalysen durch. Darüber hinaus konnten bereits im Rahmen von Weiterbildungen für Kirchgemeinden und für eine soziale Institution solche Untersuchungen angeboten werden. In allen Fällen wurden Handlungsansätze identifiziert und ein fachlich fundiertes weiteres Vorgehen vorgeschlagen. Die Kirchenleitungen entschieden auf diesen Grundlagen selbst, wohin sie sich entwickeln wollen.

Wir bieten an, gemeinsam mit Kirchgemeinden den Entdeckungsprozess zu gestalten. Die Kirchgemeinde beteiligt sich mit einem Team, bestehend aus Mitgliedern der Kirchenpflege, Angestellten und motivierten Freiwilligen. Ein wesentlicher Grund für die Beteiligung der Kirche bei der Sozialraumanalyse sind die Begegnungen zwischen Kirchenpersonen und Bewohnerinnen, Behörden oder Institutionen. Diese Vernetzung ist sehr bereichernd und eine wertvolle Grundlage für den zukünftigen Dialog zwischen Kirche und Sozialraum. Wir von der HF TDS Aarau sehen unsere Aufgabe im Skizzieren, Anleiten und Moderieren des Prozesses – und entlasten auf diese Weise die Kirchenleitung. Die Kirchenleitung ihrerseits agiert im ganzen Prozess als Visionsträgerin. Sie ermutigt die Mitglieder der Gemeinde zur aktiven Beteiligung.

Ein wesentlicher Grund für die Beteiligung der Kirche bei der Sozialraumanalyse sind die Begegnungen zwischen Kirchenpersonen und Bewohnerinnen, Behörden oder Institutionen.

Menschen, Know-How, Heiliger Geist

Das Gelingen einer Sozialraumanalyse wird durch drei Faktoren begünstigt:

  1. Die aktive Beteiligung und Motivation einzelner Mitglieder. Motivierte Mitglieder in einem Projektteam sind bereit, Zeit, Energie und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um die Analyse erfolgreich zu gestalten. Ihr Engagement und ihr Input bereichern den Prozess und die Ergebnisse.

  2. Ein umfassendes methodisches Fachwissen. Durch geeignete Methoden werden systematisch ziel- sowie lösungsorientiert Erkenntnisse gesammelt. Dabei wird auf die Menschen fokussiert. Die Teilnehmenden lernen, Bedürfnisse der Personen im Sozialraum zu erfassen, um daraus mögliche Handlungsalternativen und weitere Schritte für die Arbeit der Kirchgemeinde abzuleiten.

  3. Neben dem Berücksichtigen des Kontexts muss das Hören auf Gott eine weitere Ressource sein – gerade für Kirchen. Oder, wie ich mal gehört habe: «Aufmerksam sein, wo Gott am Werk ist und da mithelfen.» Das heisst für mich: bei der Erkundung des Sozialraums in Verbindung mit Gott unterwegs sein. An der HF TDS Aarau fördern wir diese Anwendung der «spirituellen Kompetenz», welche je nach Person verschiedene Ausprägungen annimmt. Beispielsweise kann betend oder still hörend auf Gott eine Begehung stattfinden. So kann der Inspiration durch den Heiligen Geist bewusst Raum gegeben werden.

Diese Herangehensweisen eröffnen einen Raum, in dem Fachkenntnisse der Sozialen Arbeit und Praktiken des christlichen Glaubens einander befruchten. Insgesamt entsteht auf diese Weise eine praxisorientierte und wirkungsvolle Basis, um das Handeln der Kirche im sozialen Raum zu stärken und zu verbessern.

Evangelium wird erlebbar

«Ich lebe Gemeinschaft und begeistere, damit Wachstum geschehen kann.» Diesen Satz habe ich mir als junger Mann zur Orientierung meines persönlichen Engagements gegeben. Das Evangelium entweder in Wort oder Tat weiterzugeben, sehe ich als die primäre Aufgabe des Christseins. Diese motiviert mich für eine «Kirche im Sozialraum».

Ich fasse zusammen: Das Ziel einer Sozialraumanalyse ist der konkrete Dienst am Nächsten zur Verbesserung der Lebensgrundlage im Dorf, Quartier oder Stadtteil. Dadurch bekommt das Evangelium Hand und Fuss und wird konkret: Existenzielle Bedürfnisse werden adressiert, die Lebensqualität der Menschen vor Ort wird erhöht.

Der Nutzen für die Verantwortlichen einer Kirche oder Institution: Nach einer Sozialraumanalyse können sie Entscheidungen treffen, die auf der Kenntnis von sozialen Gegebenheiten basieren. Die Sozialraumanalyse dient als Grundlage und Leitfaden für die künftige Kirchenentwicklung. Bewährte kirchliche Angebote bleiben bewusst bestehen; andere neue Projekte und Programme sind auf die Bedürfnisse der Kirchenmitglieder und der Menschen vor Ort ausgerichtet. Das Profil der Kirche wird geschärft. Zudem werden Kirche und Sozialraum gegenseitig Synergien nutzen, was die personellen Ressourcen der Kirche entlastet.

Ausgehend von Dietrich Bonhoeffers Gedanken zur «Kirche für Andere» möchten wir als TDS Aarau dazu beitragen, eine Kirche mit anderen zu gestalten. Eine Kirche, die nicht isoliert existiert, sondern aktiv mit anderen in Verbindung steht. So wird das Evangelium in Wort und Tat für Menschen im Sozialraum erlebbar. Wir sind überzeugt davon, dass die Kirche ihre Identität bewahren kann, während sich die Form anpasst. Oder: Es ist nicht die Frage, ob sich Kirche verändert – es ist die Frage, in welcher Form sie dies tut. So möchten wir ermutigen, den Wandel als einen integralen Bestandteil des kirchlichen Lebens zu betrachten und dabei stets die Essenz der christlichen Überzeugungen zu bewahren. 

Urs von Orelli ist soziokultureller Animator FH und war lange in der Jugendarbeit tätig. Er unterrichtet an der HF TDS Aarau u. a. Sozialraumanalyse und leitet den Fachbereich Weiterbildung, Beratung. Er wohnt mit seiner Familie im Zürcher Oberland.

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(1) Fresh Expressions sind neue kirchliche Bewegungen, die in erster Linie zum Nutzen von Menschen gegründet werden, die noch keiner Kirche angehören

(2) Erprobungsräume sind andere Gemeindeformen in der Landeskirche von evangelischen Kirchen in Mitteldeutschland

Beratungsangebot Sozialraumanalyse der HF TDS Aarau